Die mit dem Prozeß der Modernisierung auftretenden horizontalen und vertikalen Integrations- und Differenzierungserscheinungen bei der Umgestaltung von traditionellen Gesellschaften werfen folgende Fragen auf: Wann hat dieser Prozeß begonnen, was führte zu den Veränderungen, welche globalen Auswirkungen sind mit der Modernisierung verbunden und wie sind damit die vor Ort die angestammten traditionellen Gesellschaften damit fertig geworden?
Der Begriff "Modernisierung" wird hier pragmatisch als Sammelbegriff in dem Sinne verwendet wie in den jeweils unterschiedlichen Zeiträumen und geographischen Räumen die Teilprozesse der Geld- und Kapitalakkumulation, der Industrialisierung, der Überwindung traditioneller Verhaltensweisen und der Erweiterung der Subsysteme zweckrationalen Handelns zusammengefaßt werden. [ 1 ] Historisch ist vor allem der Typus des sozialen Wandels gemeint, dessen Ursprung in der englischen industriellen Revolution von 1760 bis 1830 und in der politischen französischen Revolution von 1789 bis 1794 aufzusuchen ist. [ 2 ] Während der beiden Phasen hat insofern ein politischer und ökonomischer Durchbruch stattgefunden, als dieser bestimmend für die Weltgesellschaft ist. Die Gesellschaften, in denen dieses nicht gelang, gerieten in eine Situation relativer Rückständigkeit. [ 3 ]
Es ist daher notwendig, den Modernisierungsprozeß im globalen Weltzusammenhang zu betrachten. Dieser wird einmal durch zunehmende internationale Tausch- und Kommunikationsprozesse und zum anderen durch die Antriebe transnationaler Integration über wirtschaftliche und technisch-wirtschaftliche Interaktionsprozesse bestimmt. Drittens dominiert weltweit die kapitalistische Produktionsweise über zwar kulturell unterschiedliche, dennoch immer homogener werdende Gesellschaftsformationen. Und viertens bewirkt sie die Gliederung der Welt in entwickelte und unterentwickelte Gesellschaften, in arme und reiche Länder und in souveräne und weniger souveräne Staaten. [ 4 ] Die fortschreitende gegenseitige Verflechtung der bisherigen, nicht miteinander verbundenen lokalen Historien, zu einer gemeinsamen Weltgeschichte [ 5 ], ist ein weiteres typisches Kennzeichen der Weltgesellschaft.
Die heutigen Modernisierungsprozesse in der Dritten Welt laufen als Versuch, unter privatwirtschaftlichen Bedingungen oder unter Zuhilfenahme staatlichen Produktionsmitteleinsatzes, "traditionelle Momente der Gesellschaftsordnung auf ökonomisch-technologischen, sozialpolitischem und kulturellem Gebiet mittels einer - sei es auch noch so bescheidenen - Industrialisierung und einer Übernahme wissenschaftlicher Erkenntnisse, technologischer Standards und soziokultureller Wertorientierungen aus den bereits entwickelten Gesellschaften zu überwinden." [ 6 ]
Es ist in diesem Zusammenhang auffallend, daß die meisten stillschweigend die Modernisierungsprozesse in der Dritten Welt akzeptieren und dabei von einem rational geprägten westlichen Lebensstandard ausgehen. Sie berücksichtigen nicht, daß möglicherweise in allen Gesellschaften traditionelle und moderne Elemente gleichzeitig enthalten sein können. Demnach darf sich auch eine kritisch gefaßte Modernisierungstheorie keinesfalls als die bessere Strategie oder als ein noch besseres Programm zur Überwindung von Rückständigkeit und Traditionalität anbieten [ 7 ], sondern sie sollte in ihrem Kalkül die mit der Modernisierung einhergehenden Deformationen in den traditionell geprägten Gesellschaftsstrukturen berücksichtigen. Denn die traditionell bestimmten Lebensweltstrukturen haben der in modernen Gesellschaften lebenden Menschen eine große Bedeutung. Sie stellen das eigentliche Reservoir für eine Persönlichkeitsentwicklung dar. Denn diese bilden schließlich jene "gelungene" Identität aus, die Individuen befähigen, den Systemimperativen komplexer Gesellschaften standzuhalten. Daher werden im nächsten Abschnitt auch zuerst die den modernen Gesellschaften zugrundeliegenden Traditionsstrukturen untersucht.
[ 1 ]
Vgl. Hugo C. F. Mansilla, Entwicklung als Nachahmung. Zu einer kritischen Theorie der Modernisierung, Meisenheim 1978, S. X
[ 2 ]
Vgl. ebd., S. 25
[ 3 ]
Vgl. ebd.
[ 4 ]
Vgl. Rainer Tetzlaff, "Weltgesellschaft": Trugbild oder Wirklichkeit? Eine Kategorie zur Analyse internationaler Beziehungen, in: Thomas Siebold/Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Strukturelemente der Weltgesellschaft, Ffm 1981, S. 9
[ 5 ]
Vgl. ebd., S. 49
[ 6 ]
Hugo C. F. Mansilla, S. IX
[ 7 ]
Vgl. ebd.