Wenn sich heute überall in Europa Regionalbewegungen formieren, so verstehen sich diese selten als Erbe der traditionellen landschaftsgebundenen Lebensformen. Vielmehr sind sie eher die kulturellen Resultate sozialer und ökonomischer Konflikte. Es gibt kaum einen Regionalismus, der sich nicht zugleich als Anwalt ökonomischer und politischer Interessen verstehen würde. Das ist um so offensichtlicher, als das kulturelle Substrat - typisch dafür ist z.B. die okzitanische Bewegung in Frankreich - nur noch als intellektuelle Rekonstruktion zurückzugewinnen ist. [ 1 ]
Wenn sich aus meist staatlichen oder wirtschaftlichen Interessen heraus in Regionen Veränderungen vollziehen, so sind dennoch für das Regionalbewußtsein der Bewohner "lebensweltlich" bestimmte Momente entscheidend. Persönliche Identität bildet sich im wesentlichen in Sozialstruktur und Natur der ihnen umgebenden Landschaft aus. Vorherrschende tradierte Kulturformen prägen die in der Region lebenden Menschen nachhaltig. Änderungen in Natur und Landschaft, Änderungen der traditionell bestimmten Lebensweisen durch die weiter vordringende industrielle Entwicklung erzeugen Bruchstellen in den Lebensbiographien der Menschen. Diese trennen sie nicht nur von ihren herkömmlichen Lebensformen ab, sondern wirken innerhalb ihres Innenlebens und ihrer Psyche weiter. Somit werden den Menschen Schritt für Schritt die Lebensgrundlagen genommen, in denen sie - unbeeinflußt von Systemimperativen und auf natürlicher Grundlage - ihre eigene Identität ausbilden und sich selbst verwirklichen können. Die natürlichen und soziokulturellen Entfaltungsräume und Gestaltungsmöglichkeiten werden immer mehr eingeengt durch ständige Einbrüche funktionaler Systemnotwendigkeiten. Vermarkteter Folklorismus und vielbeschworene Heimatgefühle können endgültig Verlorengegangenes nicht ersetzen, sie sind nur ein schlechter Abklatsch des Vergangenen. Zerbrochene Traditionen und verstummte Sprachen sind ebenso unwiederbringlich dahin wie ausgestorbene Tier- oder Pflanzenarten.
Europäische Regionalbewegungen, wie die der Katalanen und Basken in Spanien, der Waliser und Schotten in Großbritannien, der Bretonen, Okzitanier, Sarden und Elsässer in Frankreich, um nur die wichtigsten zu nennen, sind eigentlich streng genommen Nationalbewegungen, die, wenn auch im nationalstaatlichen Rahmen, einen autonomen Status anstreben möchten. Die völlige Separation, wie militante Gruppen der Sarden und Basken sie durchsetzen möchten, sind Ausnahmen und wenig erfolgversprechend.
Obwohl es in der Bundesrepublik Deutschland so gut wie keine regionalen Bewegungen gibt, existieren doch Minderheitsgruppen. Im nördlichen Grenzgebiet sind es neben den Friesen, die sich mehrheitlich für eine sprachliche und kulturelle Minderheit halten, die Dänen, die sich als nationale Minderheit verstehen. Die Regelung der dänischen Minderheiten-Angelegenheiten gilt, ebenso wie die der deutschen Minderheit im dänischen Nordschleswig [ 2 ], als vorbildliches Modell der internationalen Politik. [ 3 ] Die Partei der dänischen Minderheit, der "Südschleswigsche Wählerverband" (SSW), unterliegt als einzige Partei in Schleswig-Holstein und auf bundesdeutscher Ebene nicht der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen ist die SSW ein gewichtiger Faktor. Die Partei der dänischen Minderheit ist im politischen Geschehen des nördlichen Bundeslandes Schleswig-Holstein zur Zeit kaum mehr wegzudenken.
Nationalbewegungen, egal ob sie sich als nationale Befreiungsbewegungen oder als mehr oder minder militante nationale Minderheiten verstehen, sind ein relativ junges Phänomen der Weltentwicklung und entstanden erst im Zuge der Herausbildung von Nationalstaaten. Hierbei gerieten zwei politische Prinzipien miteinander in Konflikt: einmal Gedanke der Kulturnation, in der sich das seiner Eigenart bewußtwerdende Volk als Einheit zusammenschließen möchte, eine Form, die historisch gesehen, für Deutschland bestimmend gewesen ist. Zum anderen der Gedanke des Nationalstaats, welcher für seinen Bestand ein geschlossenes Staatsgebiet und ein Staatsvolk benötigt. Eine ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit der Staatsbürger spielt dabei keine Rolle. Als historische Form sind dafür die Herausbildung Frankreichs und die Gründung der USA zu sehen.
Je zentralistischer ein Nationalstaat sich gebärdet, je mehr er sich das Kulturverständnis der Mehrheitsethnie zu ungunsten anderer Minderheitsethnien zu eigen macht, je weniger föderale und plurale Elemente er gelten läßt, desto härter tritt die Minderheitenproblematik zutage. Besonders dann, wenn Volksgruppen anderer ethnischer Zugehörigkeiten in besonderem Maße versuchen, ihre Kultur, ihre Sprache oder ihre Religion hervorzuheben und von äußeren Einflüssen reinzuhalten.
Die Probleme ethnischer Minderheiten sind nur schwer von der Nationalitätenfrage abzukoppeln. Daß in Europa sich überhaupt nationale Minderheiten artikulieren konnten, lag daran, daß sie zurückgebliebene Volkskulturen repräsentieren, denen es in den vergangenen Jahrhunderten aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gelang, sich in die Palette der europäischen Nationalstaaten einzureihen oder sich zu souveränen autonomen Nationalstaaten aufzuschwingen. Die ursächlich daraus resultierenden nationalen Minderheiten verstehen sich als Bewegungen, die besondere Rechte gegenüber dem Nationalstaat und ihrer dominierenden Mehrheitsethnie einfordern. Sie möchten sich als kulturelle, sprachlich und wirtschaftlich unterdrückte Regionalminderheiten gegenüber der fortschreitenden wirtschaftlichen und politischen Nivellierung durch die westliche Zivilisation behaupten. Sie möchten sich ihr Bewußtsein eigenständiger kultureller Wurzeln nicht völlig nehmen lassen und pochen daher weiterhin auf ihre eigenen Volksgruppenidentitäten.
Die Regionalbewegungen in Europa sind auch dadurch verursacht, daß immer noch ethnische Minderheiten kulturell oder sprachlich, religiös oder rassistisch unterdrückt, ihre abweichende Lebensweise von den Mehrheitsbewohnern des Nationalstaats auf politischer Ebene nicht genügend berücksichtigt oder toleriert werden. Ebenfalls als ungenügend wird ihre soziale, rechtliche und wirtschaftliche Stellung im vorherrschenden Mehrheitssystem angesehen. Es trifft aber nicht nur Bewohner peripherer Regionen, die nicht unbedingt einer ethnischen Minderheit angehören müssen, es trifft gleichermaßen die in der gesamten Bundesrepublik lebenden Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma, Türken und sonstige Ausländer. Viele davon sind politische Flüchtlinge, Asylbewerber und früher angeworbene ausländische Arbeitnehmer mit ihren Familien, die sich hier in einem für sie fremden Land aufhalten und ihren Lebensunterhalt oft unter mühevollen Umständen verdienen. Sie bringen zudem ihre eigene Sprache und Kultur mit und sind von daher nur schwer oder gar nicht in die Kultur des "Gastlandes" zu integrieren.
Fritz René Allemann vermutet, daß die vielfältigen Erscheinungsformen der "regionalistischen Revolte" nur ein Reflex auf die europäischen Einigungsbestrebungen sind. [ 4 ] Er versucht die auf den ersten Blick paradox anmutende These wie folgt zu erklären: "Der Drang zu einer engeren 'übernationalen' Zusammenfassung der (west)europäischen Länder scheint dem zur Autonomie kleinerer, bisher in einem nationalen Verband eingeschlossenen Einheiten geradewegs zu widersprechen. Aber der Widerspruch ist nur scheinbar. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß beide Erscheinungen verschiedene Ausdrucksformen derselben Krise sind: eben der Krise jenes Nationalstaates, der aus der französischen Revolution hervorgegangen und dessen Physiognomie durch die oft mißverstandene oder mißbrauchte Anwendung des demokratischen Mehrheitsprinzips, durch extremes Souveränitätsdenken, Irredenta-Ängste und den Ethnozentrismus des jeweils dominierenden 'Staatsvolkes' geprägt worden ist. Dieser Staats-Typus erscheint in den neuen Zusammenhängen eines globalen, von Weltmächten getragenen politischen Systems zunehmend als Anachronismus - unabhängig davon, welche schweren praktischen Rückschläge die aus dieser Erkenntnis geborenen Bemühungen um eine "supranationale" Integration Europas erlitten haben mögen". [ 5 ]
Wenn ein Nationalstaat "von oben her" erschüttert wird, verliert er auch "von unten her" gegenüber "seinen aus irgend einem Grunde eigenwilligen Regionen" an integrierende Kraft. [ 6 ] Daß sich aber aus regionalen Bewegungen oder nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen eigenständige Nationen herausbilden könnten, ist in naher Zukunft unwahrscheinlich. Zwei unterschiedliche Entwicklungen stehen dagegen: Zunächst hatte es z. B. seit den Siebziger Jahren in Spanien und Frankreich ernstzunehmende Bemühungen um Dezentralisierung oder Föderalisierung gegeben, die zumindest in einigen Punkten den Forderungen der auf Autonomie strebenden Separatisten gerecht wurden. Zum anderen zeichnen sich im Rahmen der europäischen Integration weitergehende und optimalere Möglichkeiten ab, sprachliche und kulturelle Minderheiten zu schützen als es in den engen Verfassungsrahmen der Mitgliedsländer möglich wäre. [ 7 ]
Ein kulturpluralistischer Ansatz ist eher in der Lage, kleinräumige Verhältnisse und regionale Entwicklungen in ihrem Selbstverständnis zu begreifen. Nach einem solchen Modell hätten Minoritäten die besseren Chancen, ihre politische Eigenständigkeit, ihre Eigentümlichkeiten und ihre Traditionen zu bewahren. Eigene souveräne Staaten anzustreben, wäre nicht nur deswegen kontraproduktiv, weil sie die Rechte und Eigenarten der anderen Nationalitäten gefährden könnten, sondern angesichts weitergehender und übergreifender internationalen Entwicklungen, die evtl. auch eigenständige regionale Bewußtseinsprozesse berücksichtigen, und souveräne Staaten in dem Zusammenhang ohnehin an Bedeutung verlieren.
Die regionalen Bewegungen und Minderheitsorganisationen, die sich zur "Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen" (FUEV) zusammenschlossen, setzen deshalb auf die Einheit Europas, weil sie sich für die eigenständige Entwicklung ihrer Volksgruppen im Rahmen eines größeren Ganzen mehr Chancen erhoffen. Auch die seit einigen Jahren bestehende und ausgleichend wirkende wirtschaftliche Förderung über den EG-Regionalfond könnte unterentwickelten oder peripheren Regionen, unabhängig von nationalstaatlichen Fördermaßnahmen, effektiv helfen und ihnen somit bessere Entwicklungsmöglichkeiten verschaffen. Ein politisch und wirtschaftlich voll integriertes Europa, ein Europa mit selbstbewußten kulturell eigenständigen Regionen, gäbe unter diesen Voraussetzungen nicht nur sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minderheiten, sondern allen sozial und ökonomisch benachteiligten Bewohnern der abgelegen Grenz- und Peripheriegebieten in Westeuropa einen günstigeren Rahmen ab.
[ 1 ]
Vgl. Dirk Gerdes, S. 311
[ 2 ]
Vgl. "Bonner Erklärung" vom 29. März 1955 und die entsprechende "Erklärung der dänischen Regierung" gleichen Datums, in: Rudolf Grulich/Peter Pulte (Hrsg.), Nationale Minderheiten in Europa, Opladen 1975, S. 98 ff. und S. 105 ff.
[ 3 ]
Vgl. Rainer S. Elkar, Die Ausbreitung..., S. 12
[ 4 ]
Fritz René Allemann, Aufstand der Regionen, in: Wilhelm Hennis u. a. (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 306 f.
[ 5 ]
Vgl. S. 307
[ 6 ]
Vgl. ebd.
[ 7 ]
Vgl. Thomas Steensen, Volksgruppen und Regionalsprachen aus europäischer Sicht, in: Nordfriesland, 16. Jg. (1982), H. 63/64, S. 111