Das Weltwirtschaftssystem
Der integrative Zusammenhang der heutigen Weltgesellschaft verdankt sich im wesentlichen dem Verkehr und dem Handel. Die moderne Verkehrstechnik macht die relativ abgeschlossenen regionalen Räume verfügbar und verändert zudem das Zeitgefühl. Denn der Wandel eines nur einzigen Elementes im Raum-Zeit-Gefüge wirkt auf das Ganze. Die immer schnelleren Reisen "vernichten" Zeit und Raum zwischen den Zielorten. Die Räume rücken unmittelbar zusammen, prallen geradezu aufeinander. Im letzten Jahrhundert entstand ein engmaschiges Strecken-, Straßen- und Kommunikationsnetz, das die wesentlichen Landschaften Europas oder gar der Welt zusammenschloß. [ 1 ]
Die Entfaltungs- und Emanzipationsmöglichkeiten innerhalb des kapitalistisch gesteuerten internationalen Beziehungssystems beruhen auf Handelsgewinne durch ungleichen Tausch und auf Austausch von Wertäquivalenten. Das verselbständigte kapitalistische System der bürgerlichen Gesellschaft macht an den Grenzen der nationalen Staaten keinen Halt. Es versucht seinen Herrschaftsbereich ständig auszudehnen und imperialistisch alle Winkel der Erde sich untertan zu machen. Der Weltzusammenhang mittels der Tauschäquivalente wird allerdings dadurch erkauft, daß alle Gegenstände und Beziehungen Nützlichkeitserwägungen unterzogen werden. Alle Traditionen, alle noch so entfernten und entlegenen Kulturen fallen den integrativen Imperativen des kapitalistischen Systems zum Opfer.
Die kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft, die ihre Netze über die ganze Erde spannt, wirkt auflösend auf die unterschiedlichen Sitten und Traditionen der bestehenden Kulturen. Es entsteht die sogenannte Welteinheitskultur, denn zur Verwertung des weltweit eingesetzten Kapitals ist es nämlich zwingend erforderlich, Neuheiten zu entwickeln und Moden zu verbreiten. Allen importierten dem inländischen Markt zugeführten exotischen Waren des Auslands haftet dieses Neue an. [ 2 ]
Die durch Verkehrserschließung möglich gewordene Vergleichbarkeit verbindet sich mit der Nivellierung dieser Räume. Traditionelle, eigentümliche und unverwechselbare Lebensgewohnheiten fanden, da unvereinbar, mit der Ausbreitung der industriellen Produktions- und Konsumentengesellschaft ein Ende. Massenhafte, gleichförmige Waren verbreiteten sich ebenso wie die vielfältigen Handelsprodukte aus aller Welt. Diese brachten überall neue Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen mit sich. Das Paradoxe daran ist, daß mit der ununterscheidbaren einheitlichen westlichen Zivilisationskultur gleichzeitig eine derartige Differenzierung und Vielfältigkeit ermöglicht wird, die das zuvor Behauptete nur scheinbar widerlegt.
In einem solchen Prozeß geht die lokale Identität des Produkts in demselben Maße verloren wie Produktions- und Marktorte sich räumlich voneinander entfernen. Die konkret sinnlichen Eigenschaften des Naturprodukts oder der Ware erscheinen dem Käufer am entfernten Markt grundsätzlich anders als am Herstellungsort, wo diese als Resultat natürlichen Wachstums oder alteingewöhnter Arbeitsvorgänge zu betrachten sind. Herstellung und Verbrauch von Lebensmitteln sowie die Nutzung von Gebrauchsgegenständen standen vor Beginn des modernen Transportwesens vorwiegend in lokalem Bezug. Erst mit Öffnung der Handels- und Verkehrswege wurde auch die Ware heimatlos. [ 3 ]
Das Schicksal, das die Bewohner der Region mit der Erschließung der Verkehrsmittel erfuhren, ist vergleichbar mit jenem "Verlust der Aura", die angestammten Plätzen anhaftet, die einst dem überlieferten "Hier und Jetzt" bestimmter Orte zukam. [ 4 ] Durch den überregionalen Waren- und Menschenverkehr wurden die Bewohner aus der Verbundenheit ihrer lokalen Lebenswelt herausgerissen. Problemlos und schnell war die Hauptstadt von der entlegensten Region aus zu erreichen. Für die Provinzbewohner war das Leben in den Zentren verlockend, es fiel ihnen schwer sich dem Sog zu entziehen. Erhöhte Mobilität der Bevölkerung ist die eine, dahinkümmernde strukturgeschwächte Agrar- und Peripherieräume die andere Folge dieser Entwicklung. [ 5 ]
Erst die Städte dominierend, erreichten die modernistischen Einflüsse, vermittelt über den Markt, schließlich auch das flache Land. Ihr Vordringen bewirkte, daß die ländliche Bevölkerung ihre alten Sitten, Moden und Traditionen ablegten, die sie als lächerlich nun empfanden. Ferdinand Tönnies bemerkte damals gegenüber der Entwicklung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland begann: "Die billige glänzende Ware imponiert ihm mehr als das altfränkische Stück seines Hausrats, mit den wunderlich schönen Formen. (...) Das großstädtische Muster wird nachgeahmt. Die rasch, mit mechanistischer Technik fabrizierte Ware ist oft unschön und undauerhaft, wie die Mode, der sie entsprungen ist. Die ganze gesellschaftliche Zivilisation hat etwas, was dem künstlerischen Geiste, der ganz in Tradition und Treue beruht, entgegen ist. Sie ist oberflächlich, äußerlich. Dünn, leicht, unecht, uniform und monoton sind ihre Massenprodukte. So wird ein Zeitalter vorherrschender Mode und vorherrschender gesellschaftlicher Zivilisation mächtig gegenüber einem Zeitalter, das hinter ihm liegt." [ 6 ]
Die von England ausgehende industrielle Revolution und der damit verbundene Wirtschaftsliberalismus führten im 19. Jahrhundert auch in Deutschland zur Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft und zur Aufhebung des Zunftzwanges für Handwerker. Die allgemeine und individuelle Freizügigkeit, die Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit für das Gewerbe und den Handel, die mit zu den Kernbestimmungen des liberalen Verfassungsstaates im 19. Jahrhundert gehörten, schufen die Voraussetzungen für ein engmaschiges Netz von Handelsniederlassungen und Märkten in aller Welt. Die bürgerliche Gesellschaft erweiterte sich über die Grenzen der Staaten hinweg zu einer internationalen Erwerbsgesellschaft. [ 7 ]
Die im internationalen Wirtschaftsprozeß erworbenen Tauschgewinne und Mehrwertabschöpfungen, die u. a. auf Ungleichheiten nationaler Tauschverhältnisse beruhen, haben nur dann einen Sinn, wenn diese in den gesellschaftlichen Prozeß zurückgegeben bzw. reinvestiert werden. Da das gesamte kapitalistische System auf Wiederverwertung abgeschöpften Mehrwertes und auf regionale, nationale oder internationale Disparitäten beruhende Tauschgewinne aufbaut, müßte das nationalüberschreitende imperialistische Wirtschaftssystem eigentlich in sich zusammenbrechen, sobald irgend etwas diese Kapitalflüsse stockt. Es muß in diesem System also weiterverwertet und ausgetauscht werden, damit die erarbeiteten Werte und Tauschgewinne nicht verloren gehen, nicht sinnlos verschwendet oder vergeudet werden. Somit muß der Produktionsprozeß weiterlaufen und damit die Mehrwertabschöpfung an den beteiligten arbeitenden Menschen.
In der harmloseren Variante der Verwertungsschwierigkeiten treten periodische und weltweite Wirtschaftskrisen auf, in denen Werte so lange vernichtet werden, bis durch Abbau von Kapazitäten, Konkursen und Firmenzusammenbrüchen, Freisetzen von Arbeitskräften und anderes mehr die Träger des Kapitals am Ende des Zyklus wieder günstigere Ausgangsbedingungen vorfinden. Diese Wirtschaftskrisen wirken sich in abgeschwächter Form sogar auf das Wirtschaftsgeschehen in den sogenannten sozialistischen Ländern aus.
Als zweiten Ausweg und schlimmere Variante, um zyklische Zusammenbrüche des Systems mit allen nachteiligen Folgen zu vermeiden und eine Weiterverwertung des Kapitals zu ermöglichen, bietet sich die Herstellung unproduktiver Rüstungsgüter an. Die durch den Staat vermittelten überschüssigen Gewinne werden in diesen Produktionsbereich gesteckt, damit die hier entstehenden destruktiven Werte, wenn sie nicht vorher verschrottet, in immer noch wahrscheinlichen Kriegen "verbraucht" werden. Zwar halten sich die hochgerüsteten Machtblöcke durch das atomare Patt in Balance, doch als Ausweg bieten sich immer noch Rüstungsexporte an. Ohne diese wären Kriege in der Dritten Welt oder im Nahost, z. B. zwischen Iran und Irak, nicht möglich.
Die dritte Möglichkeit der Kapitalvernichtung besteht darin, abgeschöpfte Gewinne dem spekulativen Geldmarkt zur Verfügung zu stellen. Das Geld fließt seit einigen Jahren in Form Krediten vor allem in die Länder der Dritten Welt. Da viele Schuldnerländer nach einiger Zeit nicht mehr ihre Schulden zurückzahlen konnten, war vielfach von einer weltweiten Verschuldungskrise die Rede. Insbesondere die reicheren Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko, Argentinien hatten diese verursacht. Die Banken der reichen Industrienationen wiederum konnten es sich nicht leisten, ohne fatale auf sich selbst zurückfallende Wirkungen, Zinsrückstände oder gar Rückzahlungen in voller Höhe der ausgeliehenen Kredite einzufordern. Das hätte Börsenkollapse mit etlichen Bankenzusammenbrüchen und Konkursen nach sich gezogen.
Die Banken waren daher eher bereit, umzuschulden als auf rechtzeitige Rückzahlungen zu bestehen. Im Prinzip hätte ein großer Teil der ausgeliehenen Milliardenbeträge abgeschrieben werden müssen, da einige Länder einfach nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden zurückzuzahlen. Um etwas vom Geld wiederzusehen, wurde vor allem über den Internationalen Währungsfond versucht, in die Politik der verschuldeten Länder massiv einzugreifen. Unter Druck gesetzt mußten sie, um einen Zahlungsaufschub zu erwirken oder um neue Kredite zu erlangen, bestimmte Bedingungen erfüllen, die in der Folge die Politik und Wirtschaftspielraum des Landes stark einengten.
Anmerkungen
[ 1 ] Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Ffm/Berlin/Wien 1979, S. 38
[ 2 ] Vgl. Ferdinand Tönnies, Die Sitte, Ffm 1909, S. 86
[ 3 ] Vgl. Wolfgang Schivelbusch, S. 41 f.
[ 4 ] Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der Reproduzierbarkeit, in: ders., Illuminationen, Ffm 1980, S. 139 ff.
[ 5 ] Vgl. Wolfgang Schivelbusch, S. 42
[ 6 ] Ferdinand Tönnies, S. 860
[ 7 ] Vgl. Hartwig Bülck, Das Recht auf Heimat, in: Schriften der Grenzakademie Sankelmark, (1954), H. 9, S. 4 f.
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