Das internationale politische System
Neben dem weltweit agierenden Wirtschaftssystem, das heißt neben die über den Tauschhandel vermittelte Expansion der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die sich über die ganze Welt erstreckt, gibt es einen weiteren international wirkenden Integrationsfaktor, nämlich die Nationalstaatsgrenzen übergreifende und ausweitende staatliche Macht. Diese strebt zum Ganzen, immer Größeren, zur Herrschaft, Unterwerfung und Einflußnahme kontinentaler und interkontinentaler Bereiche, vor allem der sogenannten Dritten Welt. Dieses sich herausbildende internationale Machtsystem wird wiederum von zwei sich gegenseitig in Balance haltenden Machtblöcken beeinflußt mit den zumindest offiziell entgegengesetzten Gesellschaftsauffassungen.
Der eine Machtbereich wird vom sich als liberal verstehenden demokratischen westlichen System beherrscht. Der andere östliche Machtbereich wird von den als totalitär geltenden Ländern des sozialistischen Systems begrenzt. Dazwischen gruppieren sich sogenannte neutrale Staaten und die Länder der Dritten Welt, die jedoch mehr oder weniger einem der beiden konträren Systeme zuneigen oder gar von ihnen abhängen. Neuerdings deuten aber der OPEC-Zusammenschluß und die Existenz von Schwellenländern u. a. darauf hin, daß sich neue Konstellationen in der Weltpolitik herauszubilden, die das west-östliche Machtgleichgewicht umstoßen könnten.
Die in Kriegen sich äußernden Hegemonialbestrebungen und Expansionsgelüste besonders aggressiver Nationalstaaten verursachten im Laufe der Geschichte Ungleichgewichte und Ungleichzeitigkeiten. Die aus dem Ausgang der Konflikte resultierenden Gebietsverluste bzw. -gewinne, die die Verarmung oder Bereicherung ganzer Landstriche verursachten, neben den sowieso natürlichen Landschaftsgegebenheiten, riefen unterschiedliche Entwicklungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art hervor. Im System der gegenseitig abgrenzenden souveränen Staaten bildeten sich wechselnde Herrschafts- und Machtverhältnisse heraus.
Mit der französischen Revolution im Jahre 1789 wurde in Europa allgemein der bürgerlich-liberale Nationalstaat eingeführt. Mit ihr wurden auch die politischen Grundrechte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zum Allgemeingut. In diesem neuen Staatsgebilde schlossen sich die Privatpersonen als Bürger zur Nation zusammen. Um das Wesen der Weltgesellschaft und des Regionalismus zu erfassen, sind Begriffe wie "Nation" oder "Nationalismus" jedoch wenig geeignet. Mehr im statischen nationalistischen Fahrwasser schwimmend, sind sie nicht in der Lage, konkret die gegenläufigen Tendenzen in Richtung Integration und Differenzierung im Rahmen der weltgesellschaftlichen Entwicklung zu erfassen. Eine Theorie, die nur den Nationalismus oder die Nation zum Maßstab der Integration macht, ist störend und trägt wenig zur positiven und friedlichen Weltentwicklung bei. Nach den leidvollen historischen Erfahrungen in Deutschland und hinsichtlich der Spaltung in zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsauffassungen, ist die Nation für Deutsche nicht mehr das höchste aller Güter. Nationalbewußtsein ist bestenfalls dann tolerierbar, wenn sich ein damit schmückender Träger der europäischen und weltpolitischen Verantwortung bewußt ist. [ 1 ]
Die Nation ist kein Wertzustand an sich, sie ist weder naturwüchsig entstanden noch stellt sie die eindeutige Ordnung des Lebens dar. Der nationale Rahmen ist veränderlich und bleibt an reale Machtkonstellationen gebunden. [ 2 ] Es greift zu kurz, die Nation aufgrund objektiver Merkmale wie gemeinsame Sprache und Kultur als Kommunikationsgemeinschaft zu definieren, in der nationale Identitäten ausschließlich auf die Interaktion in einem System komplementärer Rollen beruhen. Die Nation in ihrer Entstehung und Entwicklung kann nicht ohne die konstitutive und demokratische Rolle historischer Subjektivität erklärt werden. Ein politisches System, das bestimmte Funktionen und Leistungen zu erfüllen hat, muß nicht notwendig mit einem bestimmten Staatsgebiet übereinstimmen. [ 3 ]
Die vier zentralen Selbsterhaltungsaufgaben eines politischen Systems, - infrastrukturelle Erschließung des Staatsgebiets, Identitätsfindung, Partizipation und Distribution [ 4 ] - lassen sich auch auf internationale politische Systeme oder auf unterhalb der Nation angesiedelte dezentrale, föderale oder plurale Staatsmodelle anwenden. Der Begriff des Politischen fällt nicht unbedingt mit zentralen Staatsinstitutionen zusammen. Das Handeln der im Staat lebenden Menschen wird vielmehr von der gesellschaftlichen Selbstorganisation und von allgemeinen Willensbildungsprozessen und Entscheidungsregeln bestimmt. [ 5 ]
Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise entstand ein von Traditionen entbundenes nach allgemeinen strategischen Normen geregeltes bürgerliches Privatrechtssystem. [ 6 ] Die Etablierung des Welthandels spannte ein immer dichter werdendes über die Staatsgrenzen hinausgehendes Interaktionsnetz aus. Mit der Entwicklung der Verkehrs- und Nachrichtentechniken und mit zunehmender wirtschaftlicher und technologischer Verflechtung beschleunigte sich der internationale Vergesellschaftungsprozeß. An der Struktur der Zwischenstaatlichkeit änderte sich jedoch nichts. Habermas stellte dazu fest: "In dem neuen Horizont der Weltgesellschaft, den das globale Netz der Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen hat, sind neue überstaatliche Organisationsformen mit quasistaatlichen Kompetenzen nicht entstanden." [ 7 ]
Heute sprechen viele Indikatoren dafür, daß die Einheit der Welt Realität geworden ist. Aber diese Einheit im geschichtlichen Prozeß war nicht von Beginn an durch den Bildungsprozeß des "sich selber erzeugendes Subjektes" verbürgt. Die Entwicklung der antagonistischen Weltgesellschaft folgt eher dem Muster hierarchischer und ausdifferenzierter Grundstrukturen. [ 8 ] Die wachsende Komplexität des gesellschaftlichen Systems verlangt die stetige Erweiterung von Steuerungskapazitäten. Das Kommunikationsnetz wird dadurch intensiviert und ausgedehnt. Am Ende soll die Etablierung der Weltgesellschaft stehen, in der lokales Geschichtsbewußtsein und kulturelle Sonderentwicklungen in einem global vereinheitlichten Informationszusammenhang vermittelt werden. [ 9 ]
Aus der bisherigen Inexistenz eines Weltstaates muß nicht auf das Fortbestehen einzelstaatlicher Souveränitäten geschlossen werden. Drei Faktoren schränken bereits den Handlungsspielraum von Einzelstaaten ein: Da ist einmal die fortschreitende Entwicklung der Waffentechnik, die die großen Weltmächte um des Überlebens willen zwingt, Kriege untereinander zu vermeiden. Zweitens nutzen die über die Nationalstaaten hinwegagierenden internationalen Konzerne weltweit die Verfügung von Kapital und Arbeitskraft. Drittens formiert sich als moralische Instanz, als waches Gewissen, eine Fraktion in der Weltöffentlichkeit, deren Linie quer durch die Staaten des östlichen oder westlichen Systems verläuft. Es sei beispielsweise an die einhellige Verurteilung des Engagements der US-Amerikaner in Vietnam und in Nicaragua erinnert. [ 10 ] Zusätzlich kommen in neuerer Zeit ökologische Probleme wie Waldsterben und Meeresverschmutzung hinzu, um einige Probleme zu nennen, die nur im übernationalen Rahmen gelöst werden können.
Gegen die im Privatverkehr zugelassenen Grundsätze einer universalistischen Moral kann sich auf Dauer weder die Organisation der Staatsgewalt noch der zwischen den Nationalstaaten fortdauernde Naturzustand behaupten. [ 11 ] Optimistisch fügt Habermas hinzu: "Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die Eliminierung des Krieges als eines der legitimen Mittel der Konfliktlösung, daß die Beseitigung von Massenarmut und Disparitäten der wirtschaftlichen Entwicklung zu den internationalen Überlebensimperativen fortgeschrittener Gesellschaftssysteme entweder schon gehören oder alsbald gehören werden. Auch wenn diese Systeme vorerst keine hinreichenden Motive für die Lösung solcher globalen Probleme hervorbringen, ist doch zu sehen, daß eine Problemlösung kaum möglich sein wird, ohne die Durchsetzung bisher nur privat angesonnener Normen in öffentlichen Bereichen." [ 12 ]
Die internationalen Wirtschafts- und Machtstrukturen sind inzwischen so miteinander verzahnt, daß sich zumindest im öffentlichen Bewußtsein die Erkenntnis durchsetzte, daß angesichts der weitreichenden Folgen es nicht gleich sein kann, ob wie in Goethes Zeiten "hinten, weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen". Spätestens seit dem israelischen-ägyptischen Yom-Kippur-Krieg im Jahre 1972 - bezogen auf die anschließend erfolgte, verteuerte Erdölversorgung - wurde dem Bundesbürger bewußt, wie anfällig das Wirtschaftsgefüge der Bundesrepublik gegenüber internationalen Einflüssen geworden ist. Gegenseitige wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten, verschärft durch die intensiver werdende internationale Arbeitsteilung, bedingte ein abgestimmtes und einwandfreies Funktionieren der Weltwirtschaft. [ 13 ] Es ist tatsächlich, wie Carl Friedrich Weizsäcker es einmal formulierte, eine Art "Weltinnenpolitik" fällig geworden. [ 14 ]
Der Mensch lebt auf dem "Raumschiff Erde", das nur mit begrenzten Ressourcen an Bodenschätzen und natürlichen Rohstoffen ausgestattet ist, dessen Regenerierung und Beanspruchung durch Schadstoffe und menschliche Eingriffe nicht ins Unendliche ausgedehnt werden kann. Die menschlichen Lebensgrundlagen würden sonst, wenn nicht mutwillig, so doch unvorsichtig das ökologische Gleichgewicht der Natur gefährden. Die freiwerdende Radioaktivität nach Atombombenversuchen oder nach Kernreaktorunfällen, die vermehrte Verschmutzung der Gewässer und der Luft, der saure Regen, der in den letzten Jahren zum Waldsterben beitrug, erfordern internationale Regelungen zu ihrer Beseitigung oder Eindämmung, denn ihr Auftreten macht an keiner Landesgrenze halt. Noch in den entlegendsten Gebietender Erde gibt es Leidtragende dieser Entwicklung. [ 15 ]
Viele Probleme und Aufgaben, man denke nur an die weltweiten Forderungen zur Rüstungsbeschränkung oder gar Abbau militärischer Waffensysteme, an die Schonung der nichtvermehrbaren Ressourcen, an den Schutz und die Erhaltung bedrohter Tier- und Pflanzenarten, lassen sich nur im Weltmaßstab lösen und fordern geradezu eine großräumige und weltweite Politik heraus. Emil Küng meint, "daß die Optimierung der nationalen Subsysteme in zahlreichen Fällen nicht genügt, um Lösungen herbeizuführen, die vom Standpunkt des Gesamtsystems optimal sind. Eine Erneuerung der Politik in Richtung einer Optimierung der Gesamtsysteme erfordert deshalb in diesen Fällen eine gewisse Abtretung von Souveränitätsrechten an übergeordnete Organe oder zumindest den Abschluß von Verträgen, in denen die Partner sich verpflichten, von einem Mißbrauch derjenigen Befugnisse abzusehen, die ihnen bisher zustanden." [ 16 ]
Daraus folgt, daß der ungesteuerte anarchistische Wildwuchs der kapitalistischen Expansion und dem kleinlich staatlichen "Kirchturmdenken" Schranken angelegt werden muß. Vielleicht vermögen eines Tages doch die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft oder gar der UNO, allmählich jene Aufgaben zu übernehmen, die bisher den Nationalstaaten vorbehalten waren und sei es nur zum Ziel, daß die Menschen sich, im möglichen Rahmen, selbstbestimmt und autonom in überschaubaren, regional und räumlich definierten Lebenswelten entfalten oder verwirklichen können, anstatt daß ihnen immer nur Schranken angelegt oder sie gar entmündigt werden.
Anmerkungen
[ 1 ] Vgl. Gerhard Wuthe, Zum Problem sozioökonomischer der Nation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1983), H. 20 21, S. 34
[ 2 ] Vgl. M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Nationalismus in der Welt von heute, in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 8, S. 13
[ 3 ] Vgl. Dieter Löcherbach, S. 189
[ 4 ] Vgl. ebd.
[ 5 ] Vgl. Udo Bermbach, Defizite marxistischer Politik-Theorie, in: Politische Vierteljahresschrift, 24. Jg. (1983), H. 1, S. 13
[ 6 ] Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 391
[ 7 ] Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 109
[ 8 ] Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 396
[ 9 ] Vgl. ebd.
[ 10 ] Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 109 f.
[ 11 ] Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 391
[ 12 ] Jürgen Habermas, Machtkampf und Humanität, in: ders., und Kritik, Ffm 1973, S. 374
[ 13 ] Vgl. Emil Küng, Die großräumigen Zusammenschlüsse und die Entwicklungen, in: Universitas, 36. Jg. (1981), H. 4, S. 405
[ 14 ] Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Bedingungen des , in ders., Der bedrohte Frieden, München/Wien 1981, S. 131
[ 15 ] Vgl. Emil Küng, S. 405 f.
[ 16 ] Ebd., S. 408
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